Brainwave Special - Value-Based Healthcare

Dec 11, 2020
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BRAINWAVE INSIGHTS

Quantitative Überversorgung nicht gleich Qualität

In der Vergangenheit sind die weltweiten Gesundheitsausgaben schneller gewachsen als die globale Gesamtwirtschaft. In Deutschland machten die Gesundheitsausgaben 2018 sogar 11,7% des BIP aus. Damit liegt Deutschland weltweit auf Platz 3, hinter den USA und der Schweiz. Trotz der hohen Ausgaben gibt es in Deutschland Probleme in der Versorgungsqualität. Zum Beispiel variiert die Neuoperationsrate bei einem Hüftgelenkersatz signifikant zwischen  verschiedenen Krankenhäusern: So verbuchen schlechtere Krankenhäuser eine 18-mal höhere Neuoperationsrate als bessere Krankenhäuser. Die stark fragmentierte Anzahl an Leistungserbringern und damit verbundenen teils niedrigen Fallzahlen, führen zu teilweise erheblichen Qualitätsunterschieden in der Versorgung. Hinzu kommt ein DRG-System, das Krankenhäuser trotz prinzipiell guter Versorgungsqualität und -verfügbarkeit, zu einer exzessiven Nutzung abrechenbarer Maßnahmen bewegt. Diese führen jedoch nicht zwangsweise zu besseren Ergebnissen

Value-based Healthcare als Lösung für Qualität statt Quantität

Um diese Herausforderungen anzugehen stellte Michael Porter 2006 einen Framework zur Umstrukturierung von Gesundheitssystemen vor, welches er Value-based Healthcare (VBHC) nannte. Übergeordnetes Ziel dieses Frameworks ist die Wertschöpfung für Patienten in den Fokus der Versorgung zu stellen.

Den Wert einer Behandlungsstrategie für einen Patienten definiert Porter als das Verhältnis aus dem Behandlungsergebnis (Outcome) und den Kosten sämtlicher Ressourcen, die zur Erreichung dieses Outcomes notwendig sind. Dabei zählt neben klassischen objektiven Maßen, wie Mortalitäts- und Reoperationsraten, im VBHC Ansatz auch die subjektive Bewertungen der Patienten. Letztere Messungen werden in strukturierter und standardisierter Form auch Patient-reported Outcome Measures (PROMs) genannt. Für die Messung der Kosten sollten wirklich alle Ressourcen berücksichtigt werden, also auch Kosten für Personal, Ausrüstung, Einrichtung, IT oder Verwaltung.

Im Kern geht es darum den Erfolg einer Behandlung oder eines Eingriffes zu messen und die Bezahlung der Ärzte oder anderer Leistungserbringer davon abhängig zu machen. Ein Krankenhaus könnte so in Zukunft eventuell nur 100% der Kosten erstattet bekommen, wenn der Patient nach den VBHC-Standards erfolgreich genesen ist.

Und wie sieht das ganze in der Praxis aus?

VBHC ist heute leider mehr Konzept als Realität. Wir würden uns wünschen, mehr Kliniken und Startups zu sehen, die einen "value-based" Versorgungsansatz umsetzen wollen. So wie bspw. die Martini-Klinik, die zu den weltweit führenden Prostatakrebszentren gehört und als Paradebeispiel für VBHC gilt (s. Martini-Klinik Vorstellung). Startups wie alleyheartbeat medical oder myoncare, fokussieren sich auf die Begleitung von Patienten über den gesamten Patientenpfad hinweg und auf die Auswertung der Patientenperspektive mittels PROMs (s. Marktübersicht). PROMs bieten wertvolle Einblicke in den Behandlungspfad und ermöglichen bspw. schnelleres Eingreifen bei aufkommenden Symptomen nach einer Operation oder sogar die Verbesserung einer Behandlung durch Auswertung der Patientenrückmeldungen.

Unser Fazit: Wir finden VBHC ist ein wichtiger Ansatz, um den größer werdenden Herausforderungen der Gesundheitssysteme entgegenzuwirken. Und auch wenn breit angelegte Initiativen für eine wertorientierte Versorgung bislang noch die Seltenheit sind, beobachten wir dennoch eine steigendes Interesse. Startups etablieren sich auf dem Markt und erste Pilotprojekte starten. Die Entwicklungen schreiten in unseren Augen noch zu langsam voran. Wir erwarten in den nächsten Jahren deshalb zwar noch kein großes Wachstum des Startup-Marktes, dafür aber mehr Evidenzen für die Nützlichkeit eines wertorientierten Ansatzes für Patienten, Leistungserbringer und Kassen. Dann wird hoffentlich auch der Weg für neue Gesetze und einheitliche Erstattungsmodelle geebnet. Kliniken und Startups die es dann bereits geschafft haben ihre Leistungen am VBHC Ansatz auszurichten, werden klar im Vorteil sein.

MARKTÜBERBLICK

Wir haben uns den VBHC Startup-Markt etwas genauer angesehen und versucht die wichtigsten Entwicklungen zusammenzufassen. Generell sehen wir bislang noch sehr wenige Startups, die sich klar auf VBHC und somit eine wertorientierte Medizin fokussieren. Wenn sich Startups auf VBHC fokussieren, dann geschieht das häufig mit Fokus auf PROMs, wie etwa bei heartbeat medical oder Esprio. Startups wie alley, myoncare oder die "VitalHealth"-Plattform von Philips fahren einen breiteren Ansatz, indem sie Patienten über den gesamten Behandlungspfad begleiten und viele Interaktionspunkte schaffen. Unabhängig von VBHC existieren sowohl im B2C, als auch im B2B Bereich schon diverse Lösungen, die ebenfalls Plattformen bieten, um Patienten zu aktivieren und zu begleiten. Das allein schafft noch nicht zwingend eine wertorientierte Versorgung, aber mithilfe von PROMs wäre der Weg aus unserer Sicht nicht mehr weit. 

Insgesamt erwarten wir in den nächsten Jahren einen allgemeinen Trend hinzu Patientenplattformen, die Kontaktpunkte zu Patienten schaffen und mithilfe von PROMs deren Perspektive in die Behandlung einbringen.  

Die deutsche VBHC-Startup-Landschaft

Ergänzungen: Die Map bezieht sich auf Unternehmen, die im deutschen Markt aktiv sind
*Patient Journey App; Quelle: Brainwave Hub, Eigene Darstellung

DIE MARTINI-KLINIK

Die Martini-Klinik hat bewiesen, dass VBHC im Praxisalltag umsetzbar ist. Durch die konstante Erhebung von PROMs seit 1992 und durch extrem hohe Fallzahlen hat die Kliniken mittlerweile über 23.000 Outcome-Messungen gesammelt. Dadurch hat sie sich zu einem der größten Prostatakrebszentren weltweit entwickelt.

Was macht die Martini-Klinik so besonders?

   • Zentrale Innovation der Klinik ist die systematische Erfassung von PROMs

   • Datenauswertung von unabhängigem Statistiker und hohe Lernkultur unter den Chirurg

   • Es werden jährlich über 2.300 Prostatakrebsoperationen durchgeführt

   • Dabei werden 200 bis 300 Operationen pro Operateur pro Jahr vollzogen

Die hohe Zahl an Outcome-Messungen ermöglicht der Martini-Klinik überdurchschnittlich gute Ergebnisse bei Prostatakrebsoperationen:

INTERVIEW

Manuel Mandler war bereits Leiter Operations und Chief Digital Officer der Gothaer Krankenversicherung AG und Geschäftsführer der MediExpert GmbH. Seit Ende 2019 ist er CEO des Kölner Startups alley, das medizinische Assistentin, Informationsplattform und Ratgeberin in einem ist.

Brainwave: Ziel von alley ist es, Menschen mit komplexen Erkrankungen auf dem gesamten Behandlungspfad von Anfang bis Ende zu begleiten. Was macht alley dabei anders als andere digitale Begleiter und wie wird eine End-to-End Patientenbegleitung bei alley umgesetzt?

Manuel: Die meisten digitalen Geschäftsmodelle im Gesundheitsbereich fokussieren sich in der Regel auf eine bestimmte Indikation. Patienten End-to-End zu begleiten bedeutet, sich zunächst auch wirklich auf die Patienten und ihre Reise zu konzentrieren und nicht nur auf Indikationen. Um das zu erreichen, müssen wir Patienten immer wieder bestärken und in jeder Situation unterstützen. Auch muss man alle Akteure dieser Reise verstehen. Neben den Patientinnen und Patienten sind das die Leistungserbringer und Krankenkassen.

Die DNA von alley ist qualitätsorientierte Medizin, was wir Value Based Medicine nennen. Damit wir Qualitätsverbesserungen und nicht nur Kosteneinsparungen für Patienten, Leistungserbringer und Kassen schaffen können, bauen wir sehr stark auf Analytik. Von anderen Begleitern unterscheidet uns also, dass wir ein B2B2C Geschäftsmodell haben und auch, dass wir neben den digitalen Anwendungen Mitarbeiter haben, die sich analog um die Patienten kümmern. Bei einer durchschnittlichen Patientenreise, die etwa ein halbes bis anderthalb Jahre dauert, haben wir 9 bis 15 Kontakte mit den Patienten und Telefonate, die manchmal bis zu einer Stunde dauern.

Brainwave: Als wir uns den Markt an Startups angesehen haben, die einen VBHC Ansatz verfolgen, haben wir vergleichsweise wenige Player gefunden. Wie nimmst Du den VBHC Startup-Markt heute wahr?

Manuel: Startups wie Heartbeat Medical, die Pioniere auf dem Gebiet von VBHC und PROMs sind, wird es in Deutschland in nächster Zeit nicht sehr viele geben. Dafür ist der Markt viel zu komplex. Der deutsche Gesundheitsmarkt ist der größte in Europa und wahrscheinlich auch der regulierteste. Hier ein Startup an den Markt zu bringen und Kliniken für sich zu gewinnen ist unglaublich schwer. Zumal die Krankenhäuser auch irgendwann anfangen eigene Lösungen zu entwickeln, wie man etwa am Beispiel "Smart.Helios" sieht.

In der internationalen Perspektive gibt es mit Amazon natürlich noch den riesigen unsichtbaren Elefanten im Raum, der das alles schon bewiesen hat und irgendwann nach Deutschland kommen wird. Philips sind mit ihrer "VitalHealth"-Plattform schon sehr erfolgreich in den Niederlanden und Lateinamerika, tut sich aber schwer in Deutschland. Die Eintrittsbarriere ist deshalb so hoch, weil man die Kassenwelt verstehen muss. In den nächsten 2 bis 3 Jahren wird der Markt aus meiner Sicht also noch kein eng bestelltes Feld sein.

Brainwave: Mit alley seid Ihr mittlerweile über ein Jahr am Markt. Wo seht Ihr Euch in der Zukunft und welche Bereiche sind Euch dabei wichtig?

Manuel: Wir wollen uns in drei Richtungen entwickeln. Eine Richtung ist dabei die Internationalisierung. Wir haben ein Netzwerk an Leistungserbringern aufgebaut und haben eine Logik mit den Kassen, die wir durch das DVG entwickeln und all das übersetzen wir jetzt mit unterschiedlichen Vergütungsmodellen in die nächsten europäischen Länder.

Die zweite Richtung ist weiter in die Breite an Indikationen zu gehen und Krankheitsbilder bei alley aufzunehmen, bei denen eine enge Begleitung wirklich dringend nötig ist, wie etwa in der Onkologie oder Kardiologie.

Außerdem glauben wir an eine Allianz von mehreren starken Partnern im System, die voneinander profitieren und ein Netzwerk bauen - analog und digital. Hier wollen wir unsere Partnerschaften in Zukunft weiter ausbauen.

Brainwave: In Ländern wie Schweden oder UK ist VBHC schon längst Thema. In Deutschland scheint das Ganze hingegen eher langsam voranzugehen. Wo siehst Du VBHC in Deutschland in den nächsten Jahren?

Manuel: Seit Anfang 2018 gibt es ein Umdenken in der Politik. Was mich sehr freut ist, dass Jens Spahn und das BMG eine sehr starke Initiative in Richtung Qualität und Digitalisierung gestartet haben. Der größte Treiber für das Thema "Value Based Healthcare" in Deutschland ist das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG). Auch wenn es nie so prominent in der Diskussion ist, hat das DVG in einem kleinen Punkt im Paragraphen 284 ermöglicht, dass die GKV, die immerhin 90% der Deutschen versichert, Sozialdaten auswerten darf. Und dort liegen enorme Schätze für Value Based Healthcare.

Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass es in Europa einen stärkeren Austausch unter den Ländern gibt. Das findet zwar schon auf EU-Ebene statt, diffundiert aber nicht in die Systeme.

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